Kann Demokratie erlernt werden? – Was Fehlerkultur und Experimentieren mit Demokratiekompetenz zu tun haben

Nadja Taranczewski von Conscious U hat mich für ihren Newsletter im Februar zum Thema Adultismus, Selbstwirksamkeit und Demokratie interviewt.

Dies ist ein Auszug aus unserem Gespräch. Das Video des gesamten Interviews (30 Minuten) ist unter folgendem Link zu finden: https://vimeo.com/909464723


Was ist Adultismus und wie wirkt sich dieser in der Gesellschaft aus?

Adultismus ist die Diskriminierung von jungen Menschen aufgrund ihres Alters. Es ist wahrscheinlich die verbreitetste Diskriminierungsform weltweit. Dahinter steckt die Annahme, dass Kinder und Jugendliche weniger zu sagen haben, dass sie weniger intelligent oder weniger wertvoll sind. Wenn man genauer hinguckt, dann sieht man, dass das gesellschaftlich eine weit verbreitete Annahme ist, die sich in verschiedenen Bereichen widerspiegelt.

Wie viel denken wir Kinder zum Beispiel in der Städteplanung mit? Manchmal sind es auch einfache Dinge wie zum Beispiel, dass die Türen im Supermarkt nicht aufgehen, wenn man nicht eine gewisse Körpergröße hat. Oder andere ganz lebenspraktische Dinge, wo Kinder einfach oft nicht mitgedacht werden, was sie dann natürlich auch in ihrer Selbstständigkeit einschränkt.
Es spiegelt sich aber auch in der Sprache. Wie sprechen wir über und mit jungen Menschen? In der Bezeichnung „minderjährige Menschen“, darin könnte man ja schon eine Abwertung sehen. Und wir sagen „das Kind“, worin eine Versachlichung steckt. Wir sagen außerdem „das Mädchen“, aber „der Junge“, darin zeigen sich zusätzliche patriarchalische Strukturen.


Was sind die Auswirkungen davon, dass Adultismus in unserer Gesellschaft so vorherrscht?

Ich glaube, dass das ganz viel mit dem Selbstwertgefühl von jungen Menschen macht. Es ist ja zurzeit sehr prominent, dass immer mehr Leute die Arbeit mit dem inneren Kind oder mit ihren inneren Anteilen führen, von denen sehr viele im Kindesalter sind, als sie Schmerz erfahren haben. Dann kann man in sich selbst reinfühlen und sehen: „Wow, 30, 40, 50 Jahre später macht das immer noch was mit mir.“ Wir sind ja zum Glück inzwischen so weit, dass die körperliche Gewalt gegenüber Kindern schon sehr stark zurückgegangen ist im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten, auch wenn leider noch nicht komplett verschwunden. Aber Gewalt ist trotzdem noch da – auf anderen Ebenen: psychisch, seelisch, emotional.


Auf was für Strukturen, Wertesystem, Annahmen basiert Adultismus?

Adultismus basiert auf der Annahme, dass Kinder weniger intelligent sind, dass Kinder andere brauchen, die sie anleiten. Natürlich sind Kinder keine kleinen Erwachsenen. Sie sind im Entwicklungsprozess noch ganz woanders und es ist natürlich wichtig für Kinder, dass Erwachsene für sie da sind. Aber die Annahme, dass Kinder immer Anleitung brauchen, wo es hingehen muss, ist problematisch. Alleine schon das Wort „erziehen“: das Ziehen, das da drinsteckt. Wir ziehen uns die Kinder dahin, wo wir sie haben wollen. Da steckt sehr viel autoritäre Struktur drin.


Wie könnte denn eine Umgebung aussehen, in der junge Menschen sich wirklich optimal entwickeln und lernen können? Was ist der Gegenentwurf?

Ich denke, dass eine ganz wichtige Komponente ist, Kindern etwas zuzutrauen. Also dafür zu sorgen, dass sie Räume haben, in denen sie in die Selbstwirksamkeit kommen und sich ausprobieren können. Dafür sind bewertungsfreie Räume sehr wichtig. Man kann sich nicht ausprobieren, wenn man ständig bewertet wird. Die Fehlerkultur muss sich ändern: Einen Fehler zu machen, ist nichts Schlechtes, sondern eine Lernerfahrung. Wir lernen, wenn wir die Möglichkeit haben, Fehler zu machen, ohne dafür bestraft zu werden.
Es gibt außerdem verschiedene Studien dazu, dass wenn man Kinder nicht dem Alter nach sortiert, sondern altersgemischte Räume schafft, dies viele positive Effekte hat.


Wie wirkt sich unser Umgang mit Kindern und Jugendlichen auf deren späteren Lebensweg und damit vielleicht auch deren späteren Berufsweg oder ihr Arbeitsleben aus?

Ich glaube, dieses Angst-geprägte und dass man gelernt hat, immer von außen bewertet zu werden, das hemmt die Eigeninitiative.
Außerdem hat es auch mit der Definition von Erfolg zu tun. Es geht immer darum, gute Noten zu haben, brav zu sein, gelobt zu werden. Wir bringen Kinder dazu, gedanklich vor allem in der Zukunft zu sein. „Du lernst nicht für die Schule, du lernst fürs Leben. Du machst das jetzt, damit du den guten Abschluss bekommst, damit du dann studieren kannst, damit du dann den guten Job bekommst, damit du dann viel verdienst. Und das ist dann Erfolg.“ Aber man könnte Erfolg auch ganz anders definieren. Bin ich glücklich? Mache ich etwas, das mir Spaß macht? Wie ist meine soziale Wirkung? Welchen Impact habe ich damit?


Wir normieren Kinder also – sie müssen funktionieren innerhalb eines kapitalistischen Systems, in dem eine eng umrissene Form von Leistung belohnt wird…

Ja, zum Beispiel hinter den PISA-Tests steht die OECD. Das ist eine Wirtschaftsorganisation, keine pädagogische Organisation. Das ist kein Geheimnis, dass es da um wirtschaftliche, kapitalistische Ziele geht.


Seitens der Politik gilt es also zu überlegen, was für eine Art von von Menschwerdung wir denn eigentlich befähigen wollen. Wenn ich Menschen will, die angepasst sind und die Klappe halten, darf ich mich später nicht wundern, wenn diese nicht demokratisch tätig werden. Um mich gegen ein absolutistisches oder totalitäres Regime zu stellen, muss ich diese Kompetenz schon in mir haben.

Auf jeden Fall. Ich brauche Zivilcourage. Es muss mir erlaubt sein, in alle möglichen Richtungen zu denken, Dinge zu hinterfragen. Nicht nur: „Das ist die richtige Antwort, fertig, volle Punktzahl.“
Das Traurige ist, dass in den Lehrplänen ja durchaus viele von diesen Dingen stehen. Da steht nicht: „Wir wollen angepasste Menschen haben“, sondern Begriffe wie Demokratiebildung und diese ganzen sozialen Sachen. Aber es ist meiner Ansicht nach unmöglich, diese Dinge zu vermitteln, solange das System an sich so autoritär aufgebaut ist. Solange man das nicht selber vorlebt und Kindern die Möglichkeit gibt, das real auszuprobieren, ist das ein abstraktes Konstrukt, das sie überhaupt nicht betrifft. Wenn du einem*r 10-Jährigen etwas über Demokratie erzählst, dann ist, bis er*sie 18 ist, noch so weit weg, das hat für ihn*sie gar keinen Bezug zur Realität.


Wie wirkt sich das gesellschaftlich aus?

Wenn man gut bei sich sein kann, wenn man sich selbst gut kennt, wenn Platz da ist für die eigenen Emotionen, wenn man als Kind ernst genommen wird, dann hat man nicht das Bedürfnis, andere zu diskriminieren oder negative Aspekte auf sie zu projizieren.
Glücklicherweise haben wir heutzutage immer mehr Eltern, die wirklich versuchen, demokratische Strukturen bei sich einzuführen oder auf Augenhöhe zu sein mit ihren Kindern. Aber in der Institution Schule haben wir das noch nicht. Wenn Kinder die Möglichkeit haben, sich in echten demokratischen Strukturen auszuprobieren; wenn das, was sie sagen und was sie wollen, wirklich zählt; wenn eine Kultur des Diskutierens, des Austauschs, über verschiedene Altersstufen hinweg, gegeben ist, dann bestärkt das die Kinder, in einen demokratischen Prozess hineinzuwachsen.


Solange dieser Haltungswandel noch nicht strukturell vollzogen worden ist, gibt es ja trotzdem schon Dinge, die wir jetzt tun können. Was wäre das deiner Meinung nach?

Das Allerwichtigste ist wirklich, die eigene Haltung zu hinterfragen. Wie gehe ich mit jungen Menschen um und warum? Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man ganz viel innere Arbeit gemacht haben kann und dann bekommt man Kinder, oder man arbeitet mit Kindern zusammen, und man wird getriggert ohne Ende, weil da noch so viel drinsteckt.
Was auch sehr wichtig ist, sind Räume für freies Spiel. Kinder brauchen keinen voll getakteten Stundenplan, sondern sie brauchen Räume, um sich ausprobieren zu können, möglichst mit Menschen unterschiedlichen Alters, ohne Anleitung. Es gab mal eine Phase zum Beispiel, da waren Schrottspielplätze beliebt, wo einfach Baumaterial und Werkzeug zur Verfügung stehen. Da sieht man dann schnell, wie teamfähig Kinder sind und wie gut sie planen können. Das fördert auch die intrinsische Motivation, weil die Kinder ein gemeinsames Ziel vor Augen haben. Das ist ein demokratischer Prozess. Da muss man ganz viel aushandeln: „Wie machen wir es?“, „Wer macht was?“, „Ach, es hat doch nicht geklappt. Wie können wir es stattdessen machen?“


Stell dir vor, du hättest einen Wunsch, der sich in der Welt sofort realisieren ließ. Was wäre das? Was würdest du ändern?

Es wäre tatsächlich nötig, Schulen komplett umzukrempeln. Denn die Schule ist für die allermeisten Kinder so ein prominenter Bestandteil ihres Alltags. Diese Strukturen sollten wir viel freier und selbstverantwortlicher machen. Es gibt Beispiele, dass das gut klappen kann. Das würde ich allen Kindern sehr wünschen, dass sie die Möglichkeit haben, sich ausprobieren zu können und unter liebevoller Begleitung von Erwachsenen wachsen zu können.